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    „Nachts wache ich schreiend auf“

    Christian S. (36) erzählt im Polizeipräsidium vom schlimmsten Tag seines Lebens. Er hat in Notwehr einen Menschen erschossen – und wird damit nicht fertig.

    Der 5. März 2009 war der Tag, der das Leben des Polizisten Christian S. für immer veränderte. Es war der Tag, an dem der 36-Jährige auf dem Kiez einen Menschen erschoss. Eindeutig in Notwehr – daran besteht kein Zweifel. Doch der Beamte der Davidwache leidet bis heute unter dem Vorfall, hat Albträume. Gestern sprach er im Polizeipräsidium dazu erstmals vor einem größeren Publikum.

    Anlass war die Fachtagung „Gewalt gegen Polizeibeamte“ der Deutschen Polizeigewerkschaft. In den vergangenen zehn Jahren haben sich Gewaltakte gegen Ordnungshüter in Hamburg auf knapp 1200 Delikte jährlich fast verdoppelt. Etwas unsicher, ja verletzlich wirkt der Streifenbeamte, als er die Zuhörer begrüßt: „Schönen guten Tag an alle.“ Als der 36-Jährige den Abend des 5. März schildert, ist es mucksmäuschenstill im überfüllten großen Tagungssaal.

    Der Einsatz an der Hamburger Hochstraße war eigentlich Polizei-Alltag: Ein offenbar verwirrter 24-Jähriger hatte über 110 angerufen und seinen Selbstmord angekündigt. Christian S. geht mit einer Kollegin (35) in das Mietshaus. „Wir entschieden uns, Kontakt mit dem Mann aufzunehmen, und klopften. Doch nichts passierte“, so S. Dann sprechen die beiden Polizisten mit einem Nachbarn, als sie plötzlich an der Tür des 24-Jährigen ein Geräusch hören und instinktiv zurückweichen.

    Christian S.: „Was dann geschah, ist schwer in Worte zu fassen. Das muss man erlebt haben. Die Tür wurde aufgerissen, und der Mann kam mit einem hoch erhobenen großen Fleischermesser auf uns zugestürmt. Wie in einem Horrorfilm. Alles, was ich noch weiß, ist, dass ich mehrfach geschossen habe und der Mann zusammengebrochen ist.“

    Sekundenlang starrt Christian S. den 24-Jährigen an: „Ich hatte Angst, dass er wieder hochkommt.“ Dann blickt der Polizist auf seine Pistole: Sie ist leer geschossen. Er hat acht Mal gefeuert. Vier Kugeln haben den Angreifer getroffen. Ein Treffer in die Brust ist tödlich. Kollegen bringen den Polizisten zur Davidwache. „Ich wollte nicht viel reden, hatte Angst um meine Zukunft. Am nächsten Tag geht er trotzdem wieder zum Dienst: „Ich wollte nicht allein zu Hause sein. Ich wäre dort die Wände hochgegangen.“

    Christian S. bekommt Albträume. Immer wieder erschießt er einen Menschen, wacht schreiend auf. Ein Mal träumt er, dass er einen Tankstellenpächter für ein Überraschungsei erschießt. Bekannte reagieren unsensibel. Der Polizist bekommt zu hören, so schlimm sei das doch nicht, das sei doch schließlich sein Beruf. „Das hat mich getroffen. Ich war natürlich froh, überlebt zu haben, doch dann kam die tiefe Traurigkeit dazu, einen erst 24 Jahre alten Menschen getötet zu haben.“ Christian S. wünscht, dass auch die Kollegin geschossen hätte: „Dann hätte ich die Schuld mit jemandem teilen können.“

    Im Dienst ist er überängstlich, zieht oft die Pistole, um sich sicherer zu fühlen. Er geht zum Polizei-Psychologen: „Herrn Sch. habe ich es zu verdanken, dass ich heute wieder wie früher meinen Dienst machen kann. Ich bin seit neun Jahren bei der Polizei und hoffe noch auf viele schöne Jahre.“ Es klingt ein wenig wie eine Bitte. Und dann folgt eine Anklage: „Ich hätte mich damals über einen Anruf von der Polizeiführung gefreut, das hätte mir gutgetan.“

    Tief betroffen hört Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) den 15-minütigen Vortrag, sagt: „Es zeigt ein Stück Hamburger Polizeikultur, dass Christian S. hier offen über seine Probleme reden kann. Und nicht als Weichei bezeichnet wird, sondern verdienten Beifall für seinen Mut bekommt.“