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    Hamburgs Dealer-Szene wird immer aggressiver

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    Die Zahl der Drogendelikte ist deutlich angestiegen. In der Schanze und auf St. Pauli werden Kokain und Hasch am helllichten Tag verkauft. Auch insgesamt nimmt die Kriminalität in Hamburg leicht zu.

    Auf St. Pauli, sagt Alban Qoku, bekomme man leichter Koks als in Kolumbien. Donnerstagmittag, der 45-Jährige steht vor seinem Laden in der Silbersackstraße. Seit drei Jahren betreibt er das „Rock Café“ (Werbespruch: „Das Original! Kultig, kernig, kiezig“), in dem Rockbands an den Wochenenden Konzerte spielen. Qoku, ein Mann mit langem Bart und fester Stimme, ist genervt. „Hier auf der Ecke wird so aggressiv gedealt, dass es schlecht fürs Geschäft ist und die Politik lässt uns im Stich“, sagt er. Seit Jahren nehme der Drogenverkauf zwischen Balduintreppe und Reeperbahn stetig zu – inzwischen würden die Dealer sogar Kinder ansprechen. „Es wird immer mehr“, sagt Alban Qoku. Und die aktuelle Kriminalitätsstatistik gibt dem Clubbetreiber recht. Gestern wurden die Zahlen vorgestellt.

    Im vergangenen Jahr ist die Zahl der registrierten Rauschgiftdelikte in Hamburg um knapp elf Prozent auf rund 9400 Fälle gestiegen, die Fallzahl im Bereich Handel und Schmuggel ist sogar um knapp 16 Prozent auf knapp 1800 angestiegen. Bei der Bewertung der Daten sei jedoch zu berücksichtigen, dass es sich bei den aufgeführten Fällen um sogenannte Kontrolldelikte handelt. Heißt: Höhere Fallzahlen können auf eine höhere Kriminalität hindeuten. Sie können jedoch auch schlicht Ergebnis verstärkter Kontrollen sein.

    Kriminalität steigt insgesamt

    Das nicht geringer werdende Drogenproblem auf St. Pauli und in St. Georg steht symptomatisch für die Herausforderungen in anderen wichtigen Kriminalitätsbereichen, in denen es die Polizei trotz einer Bündelung von Ressourcen bislang nicht geschafft hat, durchschlagende Erfolge zu erzielen: So konnte auch eine Soko „Castle“, die seit August gegen Einbrecherbanden im Einsatz ist und bereits 62 Haftbefehle vollsteckte, die Einbruchszahlen nicht grundlegend senken. 9006 Einbrüche wurden im vergangenen Jahr versucht oder begangen, ein Fünftel mehr als im Jahr zuvor. Immerhin: Fast 42 Prozent blieben im Versuch stecken, wurden nicht beendet, weil Nachbarn die Polizei riefen oder die Einbrecher an der Sicherheitstechnik scheiterten.

    Eine anderes großes Problem sind die Taschendiebstähle: 20.237 Taten wurden 2015 gezählt – vor zehn Jahren waren es weniger als halb so viele. Bundes- und Landespolizei ermitteln derzeit gemeinsam, vor allem verdeckt, gegen die zumeist nordafrikanischen und rumänischen Taschendiebe, fast 900 Tatverdächtige wurden im vergangenen Jahr ausgemacht. Insgesamt machten Diebstahlsdelikte, unter die auch Einbrüche fallen, die Hälfte der Gesamtzahl aller Straftaten aus. Und die stieg im vergangenen Jahr auf fast 244.000 und damit auf ein neues Zehnjahres-Hoch. Doch es gab auch positive Entwicklungen: Bei der Zahl der Körperverletzungen gab es einen leichten Rückgang. „Neben positiven Entwicklungen gibt es auch Bereiche, mit denen wir nicht zufrieden sein können“, so Innensenator Andy Grote zur aktuellen Kriminalitätsstatistik. Die Ergebnisse zeigten jedoch eine insgesamt stabile Sicherheitslage.

    Kritik am Senat

    Die Gewerkschaften sahen das nicht so: „Es hilft nichts, einige personalintensive Einsätze gegen Einbrecher zu fahren, um sich dann in anderen Bereichen zu entblößen“, sagte Joachim Lenders, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft. Um den Kampf gegen Einbrecher zu gewinnen, müsse die Stadt mehr uniformierte Polizei auf die Straße bringen und Zivilfahnder einsetzen. Wer immer weniger Personal in die immer komplexer und komplizierter werdende Kriminalitätsbekämpfung investiert, dürfe sich doch wahrlich nicht über dieses Ergebnis wundern, betonte der Landeschef des Bundes Deutscher Kriminalisten, Jan Reinecke. Der Personalmangel etwa bei der Kripo habe dazu geführt, dass sich an vielen Dienststellen die unbearbeiteten Vorgänge stapeln würden. Organisierte Kriminalität könne so nur noch rudimentär verfolgt werden.

    Die Kriminalitätsstatistik zeichne ein „verheerendes Bild der Sicherheitslage in unserer Stadt“, sagt Dennis Gladiator, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Erstmals seit langem gebe es in Hamburg wieder eine offene Drogenszene. „Es muss sich hier endlich etwas tun, so kann es mit St, Pauli nicht weitergehen“, sagt Alban Qoku.

    Drogenhandel in der Schanze

    Auch in der Schanze stehen nach wie vor viele Dealer auf den Gehwegen. Vor der Roten Flora, in der Juliusstraße, im Florapark, im Schanzenpark. „Mehrere Gewerbetreibende vom Schulterblatt und der Juliusstraße berichten davon, wie sich die Dealer-Situation vor ihren Häusern und Geschäften seit einiger Zeit zuspitze“, heißt es in einem Protokoll der letzten Sitzung des Stadtteilbeirats Sternschanze. Jeden Abend ab 18Uhr stünden die Männer auf der Straße, auch Kinder könnten beobachten, wie Drogengeschäfte abgewickelt und Drogen versteckt würden.

    Merkbar zugenommen habe die Dealerei in den vergangenen Monaten aus seiner Sicht zwar nicht, sagt Henning Brauer vom Stadtteilbeirat. Allerdings sei derzeit auch keine Saison für den Drogenverkauf. „In den Wintermonaten wird es eigentlich weniger“, sagt er. Nicht so in diesem Winter. Auch in Richtung Eimsbüttel breitet sich die Szene nach „Welt“-Informationen inzwischen aus, anders als auf St. Pauli wird in der Schanze laut Polizei jedoch hauptsächlich Marihuana verkauft. Von erhöhter Polizeipräsenz hält Henning Brauer nichts: „Das führt höchstens zu einer Verschiebung der Drogenszene in andere Straßen“, sagt er. Und fordert stattdessen eine Anpassung der Drogenpolitik. Um den illegalen Handel einzudämmen, müsse Cannabis endlich legalisiert werden.

    Crack und Heroin auf St. Pauli

    Julia Staron, Quartiersmanagerin auf St. Pauli, glaubt an ersteres. In den vergangenen eineinhalb Jahren, sagt sie, sei es mit der Dealerei auf St. Pauli deutlich schlimmer geworden. „Anwohner und Leute, die hier arbeiten, fühlen sich zunehmend bedrängt“, sagt sie. Dabei gebe es zwei Brennpunkte: Den Drogenhandel rund um die Balduintreppe, dessen Ausläufer bis zur Silbersackstraße reichen. Und den Bereich rund um das Schnellrestaurant „Kentucky Fried Chicken“ auf der Reeperbahn, sowie die Talstraße und den Hamburger Berg, wo nach ihren Informationen vor allem mit harten Drogen gedealt werde, sagt Julia Staron. Die Polizei äußerte sich dazu gestern auf „Welt“-Nachfrage nicht.

    Wie angespannt die Situation rund um den Kiez ist, zeigt jedoch ein internes Papier mit dem Titel „Rauschgiftlage Hamburg“: Ab Mittags würden die Dealer vom Hamburger Berg über die Reeperbahn, Talstraße und Simon-von-Utrecht-Straße in Richtung Nobistor wandern, heißt es in dem Papier. Bis zu 50 Personen inklusive Konsumenten würden sich dann in den entsprechenden Bereichen aufhalten – aktuell arbeite die Polizei an einem neuen Lagebild, um herauszufinden, wie und wann die „Frontdealer“ von Hintermännern beliefert werden.

    „Das hat mit der klassischen Partydrogenszene nicht mehr viel zu tun, da werden Crack und Heroin verkauft“, sagt Quartiermanagerin Julia Staron. Der Stoff werde auf St. Pauli zu besonders günstigen Preisen angeboten, das habe sich rumgesprochen. Und gerade das Verhalten der Konsumenten harter Drogen sei vielen Menschen im Stadtteil ein Störfaktor. „Die Szene hat sich inzwischen auch extrem in den Wohnstraßen ausgebreitet, besonders die Familien mit Kindern finden das nicht witzig“, sagt Staron.

    Polizei macht Jagd auf Dealer

    Statt von einer offenen spricht man bei der Polizei lieber von einer „öffentlich wahrnehmbaren“ Drogenszene. Eine Szene „bei der wir feststellen können, dass sich Dealer auf der einen und Käufer von Rauschgift auf der anderen Seite auch im öffentlich wahrnehmbaren Raum treffen, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Wir tun außerordentlich viel, um Dealer in Untersuchungshaft und damit auch von der Straße und ihren kriminellen Machenschaften wegzubringen“, sagt Frank-Martin Heise, Vizechef des Landeskriminalamtes. Richtig sei aber auch, dass die Zahl der Dealer im vergangenen Jahr nicht spürbar gesunken sei. Heise erklärt diese Entwicklung damit, dass die Plätze festgenommener Dealer schnell von anderen Personen eingenommen würden. Von Personen, die vor allem aus Afrika und der Türkei stammten, wie Festnahmen zeigten.

    „Auf St. Pauli haben wir längst eine offene Drogenszene“, sagt Alban Qoku, während er eine Flasche Wasser über den Tresen schiebt. Ein paar Ecken weiter führt eine Frau ihren schwarzen Labrador spazieren. Seit 30 Jahren wohne sie auf St. Pauli, sagt die 51-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Nur wenige Schritte wohnt sie von der Balduintreppe entfernt, jener Treppe zwischen Bernhard-Nocht-Straße und Hafenstraße, wo auch an diesem Donnerstagmittag Männer ihren Stoff anbieten. Die Kapuzen auf dem Kopf, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben, stehen sie da und warten auf Kundschaft. Problematisch sei, dass die Dealer die Taktik der Polizei längstdurchschaut hätten, sagt die Anwohnerin mit dem Hund. So würden sie die Zivilpolizisten inzwischen kennen und sich gegenseitig warnen, wenn eine Streife in der Nähe sei. „Kaum sind die Beamten weg, sind die Dealer wieder da“, sagt sie 51-Jährige.