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    Spiegelinterview mit Joachim Lenders

    G20-Chaos – „Natürlich ist Vertrauen in die Polizei verloren gegangen“

    Aus polizeilicher Sicht hätte der G20-Gipfel nicht in Hamburg stattfinden dürfen, sagt Joachim Lenders. Der Gewerkschafter spricht von einem „sicherheitspolitischen Offenbarungseid“ – und fordert Konsequenzen.
    Ein Interview von Ansgar Siemens und Hendrik Ternieden

    Die schweren Ausschreitungen beim G20-Treffen beschäftigen Hamburg auch mehr als vier Monate nach dem Gipfel. Die Polizei verlor Anfang Juli phasenweise die Kontrolle.

    „In der Polizei hat man schwer daran zu kauen“, sagt Joachim Lenders, als Vize der Deutschen Polizeigewerkschaft und Personalrat in Hamburg ein Kenner der Sicherheitsbehörden des Landes.

    Lenders ist zugleich CDU-Abgeordneter in der Bürgerschaft, arbeitet im G20-Sonderausschuss die Vorfälle mit auf. Die Doppelrolle als Lobbyist und Politiker sei kein Widerspruch: „Ich finde es wichtig, dass die Polizei auch eine Stimme in der Politik hat“, sagt er.

    Im Interview räumt der 55-Jährige ein, die Polizei habe beim Gipfel Fehler gemacht. „Das zu kaschieren, wäre dummes Zeug.“ Verantwortlich für den Kontrollverlust, der Vertrauen bei den Menschen gekostet habe, seien aber andere.

    SPIEGEL ONLINE: Wie sehr hat das G20-Chaos das Vertrauen in die Polizei erschüttert?

    Lenders: Es gab zwei Situationen, in denen Bürger damals das Gefühl hatten, die Polizei lasse sie im Stich: Am Morgen des ersten Gipfeltages in Altona. Und am Abend in der Sternschanze. Da ist es nicht gelungen, die öffentliche Sicherheit aufrecht zu erhalten. Die Menschen hatten das Gefühl, sie wären in Bagdad, und natürlich ist dabei Vertrauen verloren gegangen. In der Polizei hat man schwer daran zu kauen.

    SPIEGEL ONLINE: Es waren mehr als 30.000 Polizisten im Einsatz, darunter zahlreiche Hundertschaften aus anderen Bundesländern. Wie lässt sich da ein solcher Kontrollverlust erklären?

    Lenders: Nehmen wir die Vorfälle in Altona. Ein brandschatzender Mob, etwa 100 Leute, zieht durch die Straßen, zerstört Scheiben, fackelt Autos ab. Es dauert mehr als eine halbe Stunde, bis die Polizei kommt. Die Einsatzleitung hat auf Hundertschaften gewartet. Die aber waren offensichtlich so schnell nicht verfügbar. Viele Einheiten waren damit beschäftigt, den Tagungsort zu schützen, die Hotels der Politiker, die Fahrtstrecken vom Flughafen in die Innenstadt.

    SPIEGEL ONLINE: Der Bürgermeister sagt, der Krawall in Altona sei ein neues Phänomen gewesen, das nicht vorhersehbar war.

    Lenders: Nein, das war kein neues Phänomen. Es gibt immer wieder auch größere Gruppen, 70, 80 Leute, die wahllos Gewalt anwenden, auch in Hamburg. Darauf kann und muss die Polizei reagieren – auch ohne Hundertschaften, die ja im Alltag nicht ständig bereitstehen. Der zuständige Polizeiführer zieht 30, 40, 50 Streifenwagen zusammen, aus allen Teilen der Stadt. Das dauert dann schon mal bis zu 30 Minuten.

    SPIEGEL ONLINE: Warum geschah das in Altona nicht?

    Lenders: Ich will nicht ausschließen, dass es zu Missverständnissen bei den Verantwortlichen gekommen ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Streifenwagen zusammen zu ziehen, als klar war, dass geschlossene Einheiten in angemessener Zeit nicht zur Verfügung standen. Hat man nicht gemacht. Die Schanze war ein neues Phänomen. Diese rohe Gewalt im Viertel, in dem die linke Szene zu Hause ist. Es gab ernsthaft Hinweise für einen Hinterhalt. Da war es verständlich, dass Polizeiführer nicht vorgerückt sind, sondern auf Spezialkräfte gewartet haben.

    SPIEGEL ONLINE: Sie haben nach dem Gipfel gesagt, die Polizei habe keine großen Fehler gemacht. Wollen Sie sich korrigieren?

    Lenders: Nein, das will ich nicht. Es ist immer die Frage: Was sind große Fehler, was sind kleine Fehler? Das Problem ist, dass offensichtlich mehr als 30.000 Polizisten in der Stadt nicht ausgereicht haben, die Vorfälle in Altona und der Schanze zu verhindern. Es war also schlicht zu wenig Polizei im Einsatz. Dafür ist die Politik verantwortlich. Seit Jahren kämpfen wir als Gewerkschaft für mehr Stellen.

    „Sicherheitspolitischer Offenbarungseid“

    SPIEGEL ONLINE: Das müssen Sie sagen, als Lobbyist.

    Lenders: Darum geht es nicht. Jeder weiß: Mehr Polizisten waren für G20 nicht zu mobilisieren. In anderen Städten durften Beamte ja nicht völlig fehlen. Obwohl alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, fehlten Kräfte, um den Worst Case zu verhindern. Und was wäre gewesen, wenn in einer anderen Stadt etwas Größeres passiert wäre? Das ist ein sicherheitspolitischer Offenbarungseid, den Deutschland sich auf Dauer nicht leisten kann.

    SPIEGEL ONLINE: Hätte der Gipfel überhaupt in Hamburg stattfinden dürfen?

    Lenders: Aus polizeilicher Sicht hätte der Gipfel nicht in Hamburg stattfinden dürfen. Als Demokrat finde ich es schlimm, dass wir uns de facto von Linksautonomen diktieren lassen müssen, wann sich Politiker zu Gipfeln treffen. Wir sollten alles daransetzen, dass das anders wird.

    SPIEGEL ONLINE: Welche Lehren muss die Polizei aus dem G20-Einsatz ziehen?

    Lenders: Sie muss die Lehre ziehen, dass sie vehementer die Politiker darauf hinweist, wenn sie Zweifel hat. Im Fall G20 hätten die verantwortlichen Leiter der Sicherheitsbehörden sagen müssen: Es geht nicht. Sie haben aber immer gesagt: Ja, der Gipfel ist durchführbar. Wir brauchen mehr Neinsager, weniger Jasager. Die Verantwortung dafür, dass die Polizei Randalierer zeitweise gewähren lassen musste, trägt die Politik, vor allem Bürgermeister Olaf Scholz.

    SPIEGEL ONLINE: Kritiker werfen der Hamburger Polizei vor, sie habe mit ihrer traditionell harten Linie die Eskalation der Gewalt befördert. Sollte die Polizei ihre Strategie überdenken?

    Lenders: Ich halte die Kritik für Quatsch. Wir sind ein Rechtsstaat. Die Polizei darf Straftaten nicht hinnehmen, auch kleinere Straftaten nicht. Es gibt keinen Ermessensspielraum, wenn sich jemand vermummt und gewalttätig agiert. Mir scheint, in der öffentlichen Debatte verrutschen die Maßstäbe, je länger der Gipfel zurückliegt. Natürlich hat es auch Fehler bei der Polizei gegeben, das zu kaschieren wäre dummes Zeug. Aber man darf nicht vergessen, wer für die Gewalt die Verantwortung trägt: Linksextreme Chaoten, die von Gesinnungsgenossen aus dem Kulturzentrum Rote Flora eingeladen worden sind. Das Problem ist nicht die Polizei – das Problem ist der Linksextremismus.

    SPIEGEL ONLINE: Es gibt Kritik an der Polizei – aber es gibt auch Urteile gegen Randalierer.

    Lenders: Die Urteile sind oft milde, zu milde. Und in den Medien schwingt gern so eine verherrlichende Spaßigkeit mit. Neulich ging es um einen Franzosen, der wegen seiner großen Liebe zum Gipfel kam – und so nebenbei auch Steine geworfen hat. Das regt mich auf. Egal wie amüsant die Geschichte ist – Gewalt darf nicht akzeptiert werden.

    SPIEGEL ONLINE: SPD-Innensenator Andy Grote sagte jüngst, die Rote Flora müsse zwar ihr Verhältnis zur Gewalt klären – selbstverwaltete linke Räume aber würden in Hamburg gebraucht. Das klingt nach einem Friedensangebot an die linke Szene. Wären Sie dafür zu haben?

    Lenders: Nein, ich bin sehr erstaunt über die Aussage des Senators. Die Rote Flora ist das Kommandozentrum für die G20-Randalierer gewesen. Der Bürgermeister hat nach dem Gipfel gesagt, ihm sei der Geduldsfaden gerissen. Er muss jetzt sagen, wie es mit der Flora weitergeht. Es kann nicht sein, dass die Stadt, der das Gebäude de facto gehört, die Besetzung in der jetzigen Form weiter duldet. Wenn den Bürgermeister der Mut jetzt verlassen hat, fordern wir eine Volksabstimmung.

    SPIEGEL ONLINE: In der Bürgerschaft soll ein Sonderausschuss den Gipfel aufarbeiten. Auch Sie gehören dem Gremium an. Was erwarten Sie?

    Lenders: Nicht viel. Der Senat und der Bürgermeister versuchen nach Kräften, unsere Arbeit zu erschweren und kritische Fragen zu verhindern. Man stellt uns einige Hundert Leitz-Ordner hin, viele Dokumente sind stark geschwärzt. Lesen dürfen wir sie nur in einer Dachkammer, das Handy müssen wir abgeben. Das spricht doch Bände.

    Ein Interview von Ansgar Siemens und
    Hendrik Ternieden                                                                                                        Hamburg, 27.11.2017