Nach Freispruch liegen bei der Polizei die Nerven blank
Mit Fassungslosigkeit hat nicht nur die Deutsche Polizeigewerkschaft auf das am 3. November gefällte Urteil des Bundesgerichtshofes reagiert, mit dem ein Mitglied der Rockerbande „Hells Angels“ aufgrund irrtümlich angenommener Notwehr freigesprochen worden ist. Der Rocker hatte im März 2010 einen Beamten durch eine geschlossene Tür erschossen und war danach zunächst zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt worden.
Harburg. „Offensichtlich geht die Justiz davon aus, dass beim Zusammentreffen rivalisierender Rockerbanden der Einsatz brutalster Gewalt an der Tagesordnung und von den Richtern gedeckt ist“, sagt Klaus Vöge, stellvertretender Vorsitzender der Hamburger Polizeigewerkschaft. Vöge unterstrich gestern im HAN-Gespräch, dass in der Gesellschaft offenbar ein zunehmender Werteverlust stattfinde: „Der Respekt gegenüber der Staatsmacht Polizei tendiert mittlerweile gegen Null“, sagt der 52-Jährige, der sich um die Belange der uniformierten Kollegen in den Polizeikommissariaten im gesamten Süderelbe-Raum und in Bergedorf kümmert.
Seiner Meinung nach waren Polizisten früher Autoritäten. „Doch die Distanz und der Respekt sind verloren gegangen“, so Vöge. Trotz der guten Ausbildung der Beamten führe diese Entwicklung zu einem höheren Risiko bei den Einsätzen. Vöge: „Stichwort Reeperbahn – trotz großer Polizeipräsenz ist die Aggressivität einzelner Personen unglaublich.“
Während auf der einen Seite die Bedingungen im Job immer schwieriger werden – Stichworte: Stellenabbau, Bezahlung und Einsatzzeiten -, seien „Skandal-Urteile“ – zu denen für ihn auch der Freispruch für „Beamtentreter“ Amor S. aus Neuwiedenthal zählt – mittlerweile an der Tagesordnung. Vöge: „Diese Urteile senden ein schlimmes Signal an die Polizei und die Bürger in Deutschland. Unsere Polizisten fühlen sich einmal mehr zum Abschuss freigegeben.“
Seine Forderung: „Grundsätzlich keine härteren Strafen, sondern das vorhandene Strafmaß ausschöpfen. Bei Gewaltdelikten gegen Polizei und andere Staatsdiener sollte das Strafmaß aber verschärft werden.“ Bei derartigen Delikten – hierzu gehören auch Angriffe auf die Feuerwehr, die bei Einsätzen behindert und sogar angegriffen wurde – sollten die Täter härter bestraft werden als ein gewöhnlicher Ladendieb: „Denn das ist derzeit nicht der Fall.“ Des Weiteren spricht sich Vöge dafür aus, dass von der Festnahme eines Täters bis zu seiner Verurteilung nicht so viel Zeit verloren gehen dürfe. „Wünschenswert wären schnelle und zeitnahe Verfahren. Der Justizapparat muss schneller arbeiten.“
Ein weiterer Knackpunkt für Vöge sind die Einsparungen bei der Personalstärke: „Die Polizei ist heute eine reine Einsatzpolizei – Kriminalitäts-Abschreckung durch Präsenz spielt heute keine Rolle mehr“, sagt Vöge, und: „Wenn einer aggressiven Jugendgang zwei Polizisten gegenüberstehen, werden wir doch nur ausgelacht. Deshalb lautet eine unserer Forderungen: Mehr Personal für die Polizei!“ Die Täter hätten außerdem keine Angst, gefasst zu werden, weil die Anfahrtswege oft viel zu lang seien: „Wenn die Wache 20 Minuten vom Einsatzort entfernt liegt, sind die Täter oft schon über alle Berge, wenn die Beamten eintreffen.“
Eine Patentlösung hat Vöge auch nicht parat. Allerdings: „Die Weichen für das spätere Leben werden im Elternhaus gestellt. Bereits hier müssen die Kinder die richtige moralisch-soziale Einstellung vermittelt bekommen.“